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Zur 4-teiligen Serie "Familienportrait"

Arche mit Gespielen
Das Selbst- als Fremdporträt

Was ist ein Porträt? Welche Funktionen erfüllt es: künstlerische, soziale? In welchen Bezügen stehen die Abgebildeten dazu? Die Betrachter? Eine Urheberinstanz?
Fragen dieser Art haben immer wieder die Bilder selbst beantwortet, nicht ihre Gestalter. Denn diese kennen kaum das Plazet, das ihre Werke stiften. Also fragt sie nicht! Das Gemalte wird noch Auskunft geben, wenn sie längst nicht mehr sind. Es spricht durch seine Materialität, formale Entscheidungen, Hintergründe, durch die Wahl von Motiv und Gegenstand, die Gesichtspunkte, unter denen das Abgebildete erscheint.
Martina von Schulthess‘ Position, indem sie das Nächstliegende in den Blick nimmt, fällt detailbezogen aus, obwohl ihre Gemälde grossformatig sind. Die Nächsten haben ihren Auftritt. Sie kommen daher, als müssten sie eine Arche Noah betreten, wie Flüchtlinge, kaum möbliert, angetan nur mit dem, was auf einen Körper passt – als hätte man sie aus privaten Situationen ins kühle Licht der Sichtbarkeit gezerrt. Ja, die Abbildungs-Kapsel ist eng, also bitte keine Einkaufswagen, Tumbler oder Schneekanonen! Handgepäck für den Flug könnte man stattdessen entdecken, hier aber vor allem Lebewesen, tragbare Begleiter. Selbst wo es Gegenstände sind, wirken sie belebt: regsame Skulpturen.
Die Familie: Ein Gefahrenbereich seit je, es drohen Probleme von Nähe und Distanz, im Härtefall spricht die Verhaltensforschung von ›Pferchschäden‹. Das hier gewählte Setting verschärft diese Engnisse noch, und zwar durch die Anwesenheit der Künstlerin: Sie ist gezwungen, das Selbst- mit dem Fremdporträt zu verbinden – man denkt an Velazquez‘ ›Las Meninas‹, wo der Maler mit viel Bartwichs einen ironischen Auftritt feiert. Inmitten von höfischem Personal ist er das dirigierende Individuum.
Solche Distanzierung wird hier hintertrieben: Der Kotbeutel spricht von der Notdurft an der Ecke, es exponiert sich das Alltäglich-Beiläufige, allerdings auch wieder festgehalten in Öl, der Technik des Erhabenen. Doch die Malerei geht frontal an ihre Figuren heran, scheinbar unverblümt – sie lässt nicht erkennen, wo die Bruchlinie zwischen Stoizismus und Ironie, Fremdheit und Zutrauen liegt. Raum erlaubt sie als Hintergrund, nach vorne aber regieren Nähe, Haut und Blickkontakt. Die Figuren treten in Strümpfen auf, was das Ambulante der Situation betont, die Spannung zwischen dem Impromptu und seiner akribischen Ausleuchtung.
Ein prekäres Quartett, Leidensgemeinschaft am Grill, Imbiss-Staff, Gondelbesatzung, Bewohnerschaft des Reihenhauses, Luftschutzkellers oder Zugabteils (südwärts zum Beispiel, oder ostwärts – was sind schon Himmelsrichtungen, wenn man einander aus dem Gesicht geschnitten ist?).
Eine solche Vierergruppe zu gestalten, braucht Mut. Die Tradition errichtet Wälle aus Zuschreibung und Projektion. Gleichsam selbsttätig, bevor die erste Pinselspur gelegt ist, stehen wir in einem Feld des Quervergleichs. Die grossen Ahnengalerien halten das Auge in Schach. Alle Versuche, aus den Wertgefügen der Darstellung freizukommen, können also nur wirksam werden durch die Differenz.
Worin liegt sie hier?
Abhilfe schaffen zunächst die tragbaren Gefährten und Gespiele. Auf den ersten Blick stehen sie den Hauptfiguren beim Abgebildetwerden bei, zeugenschaftlich. Jedem Modell ist mindestens eines dieser Begleitwesen zugesellt, die Bezüge schaffen, Seitenwege öffnen und Luft zuströmen lassen. Sie lindern auch die strenge Axialität, mit der wir in Gesichter blicken und aus der heraus die Blicke uns messen – je länger man hinsieht, desto prüfender: ›Hältst du meiner Darstellung stand? Und wenn nicht, in welche Erzählräume weichst du aus?‹
Solche wechselseitigen Frontalitäten können die Begleiter nicht aufheben, doch abmildern durchaus, als schelmische Komplizen des zweiten Blicks. Besonders diesem prägen sie sich ein, daran ändert auch die Beiläufigkeit nichts, mit der sie im Spiel der Subdominanzen und Repräsentationen ihre Stellung halten.
Ach ja, die gesellschaftlichen Brettspiele: Auch wenn diese Figuren scheinbar auf demselben Boden stehen, so ist er ausserhalb des Bildes doch in Felder und Zonen aufgeteilt, wie wir aus harmvoller Erfahrung wissen. Es müssen noch lange nicht die ständischen Ordnungen eines Herrschaftsgefüges sein; die funktionalen Systeme des arbeitsteiligen Lebens genügen. Und nun stellt sich die Frage: Wer kocht? Wer füttert den Schreibdachs? Wer geht mit dem Schaukelpferd ins Altersturnen? Wer besucht das Heldengrab unter der Daunendecke? Wer zerbricht das Erbstück in der Vitrine? Wer bezieht sich auf wen? Wer schafft es, sich aus dem Kontext zu lösen und eigene Plüschtierfriedhöfe zu schaffen, eigene Assoziationsräume?
In diesem Bestreben könnten die Begleiter zu Helfern werden, Sekundanten der Daseinskonvulsion, aber auch zu Verflüssigern, die dem Geschäft der Individuation eine lange Nase drehen, unterwegs von einem Freeze zum andern, vor der Vollendung des Bildes schon über alle Berge – oder enteilt in den Untertagebau, wo die Grundlagen dessen erarbeitet werden, was schliesslich eine Ansicht ›des Lebens auf dem Planeten‹ ergeben könnte.
Auch wenn sie körperlich in der Regel getragen werden, sind auch sie Träger – von Botschaften, die uns die Hauptfiguren nicht direkt mitteilen könnten. Sie gleichen Akzenten, die auf dem Buchstaben erst den richtigen Wortklang ergeben.

Eine Familie also, der Titel der Werkgruppe verschweigt es nicht: Mit diesem Wort stehen systemische Fragen im Raum, einmal lebens-, einmal überlebensgross, Fragen nach Auf- und Abmerksamkeit, Präsenz, Gewicht und Gleichgewicht. Welches ist der Bezug der Bilder und Dinge, in welchen Verhältnissen stehen die Abgebildeten zueinander, zu sich selbst, zu den Ordnungsgefügen des Betrachtens und Betrachtetwerdens? Gibt es Stillhalteabkommen, Tau-wetter, Zweckbündnisse und Ententen?
Faktisch gesagt: Weil die Gemälde das selbe Format aufweisen, die Figuren aber stets leinwandfüllend abgebildet sind, kommen die Kinder vergleichsweise grösser daher. Nicht etwa überhöht, einfach nur soghaft blicken sie mich an. Was wollen mir diese unverwandten, in ihrer Direktheit fordernden Blicke bedeuten? In welche Pflicht nehmen sie mich? Sind sie so bedingungslos, wie ihre Achse es annehmen lässt, dieser rechte Winkel, der auf der Bildfläche lastet, nur leicht aus dem Fassung gebracht durch die meist sanft geneigten Köpfe? Sagen sie: ›Da sind wir – sichtbar, soweit das Leben uns geformt hat bis hierhin‹? Einzig die Malerin ist ja beschäftigt und wendet den Blick ihren Begleitern zu, als müsse sie die Schar zusammenhalten. Die anderen Gestalten aber, gesammelt und ganz bei sich, nehmen den Betrachter in den Bann ihres Blicks. Sie haben ein Recht auf diesen Akt der Gegenwehr; bekanntlich ist es ein Kreuz mit dem Konterfeitwerden (das wissen selbst die, die nicht regelmässig auf dem roten Teppich stehen).
Zunächst hat jede Person ihr eigenes Revier, um darin Binnenverhältnisse zu etablieren. Vielleicht sind die kleinen Boten der Schlüssel, nach dem sich ein Geviert mit dem andern verbinden lässt? Sie, wenn auch verschwiegen, dürfen wieseln und flinken, haben mehr Erlebnis- und Beinfreiheit. Die Hauptfiguren sind, die Gespielen agieren. Man könnte sagen: Im naturhistorischen Museum sind die Menschenmodelle Vitrinenbewohner – sie dürfen die Alltagsgegenstände vorführen, von denen wir glauben, dass sie ihr Leben begleitet haben. Ihre kleinen Gesellschafter dagegen gleichen Zoowesen. Sie sind das Hinterglasdasein gewohnt, leben ein quecksilbriges Präsens im Gehege des Blicks.
Oder stimmt das nicht?
Die Werkgruppe verhält sich schweigsam zu solchem Mutmassen. Die Malerin verzichtet auf Antworten, die ohnehin nur das Bild geben kann. Sie hat sich an die Binnenverhältnisse gehalten und lässt zwischen den Gevierten die Einbildungskraft spielen. Könnte man sagen, sie mische sich nicht ein? Dies wäre zu viel gesagt, denn das Arrangement ist ja präzise abgezirkelt und in seiner Strenge durchaus signifikant: die Farben kühl balanciert, die Tiefen betont, das Räumliche suggestiv und nicht ohne Blau-Emphase aus dem Leinwandschmelz gehoben, auch akzentuiert durch die rückwärtigen Schatten. Nach vorn dagegen, gleichsam zur Bildoberfläche hin, regiert das Gesetz der Nähe. Mag ein jedes damit umgehen, wie es kann. Ausserdem ist da dieser konstant-gleichförmige, blass-und-doch-markante Hintergrund. Und die Absenz von Schuhwerk, als käme man aus Schlafraum, Koje und Kombüse hergeschlurft; und schliesslich – abermals – die Prägnanz der Gespielen, die jede Figur aus ihrer Reserve locken wollen. Sind es Befreier? Sollen sie Kassiber von Bild zu Bild schmuggeln?
Das Auge des Betrachters zumindest macht aus ihnen Boten der Aufmerksamkeit. Dazu trägt ihre malerische Verlebendigung bei: Der kleine Superman wirkt muskulös und sprungbereit. Das Pferdchen wie auch der Hund treten in ihrer Schwärze kraftvoller aus dem Kontext als die Hauptfigur, auch mit grösserem Aplomb. Möchten sie entlaufen, oder sind sie einfach geübter im Hinnehmen des fremden Blicks, der Festschreibung ihrer Posen – und deshalb geborene Wächterfiguren, die Einfallsportale und Anhangsdrüsen hüten mit gut getarntem Schalk?
Weiteres Herumrätseln verbietet sich. Auf jeden Fall bestechen sie durch Demut, und dies verbindet sie nun, über den individuellen Bezug hinaus, noch ein weiteres Mal mit den Protagonisten, denen ausserdem, als wären sie Warenmuster ihrer Gattung, mit Namen, Geburtsdatum und Altersangabe etwas Beispielhaftes verliehen ist: Nicht ›Ecce homo‹, nur ›Siehe da, ein Geborenes, ein Exemplar Mensch!‹
Hypothesen, lauter Hypothesen, das Gemalte gibt uns keine zwingenden Nachweis-In-strumente an die Hand. Bis auf Weiteres und Ferneres ist alles hier Erwörterte unbewiesen, so wie das Gemalte selbst, und es hat weiter zu gelten, was am Anfang als Frage daherkam und was jetzt, ausserhalb der Bildnisse, weiter antwortlos bleibt: Wollen Abbilder unserer selbst, solange wir uns auch wechselseitig anschauen könnten, an unserem Sehen arbeiten oder am Bild, das wir uns im Horror Vacui vor den diversen Spiegeln der dinglichen Welt laufend machen? Aber ja, sie halten fest, was flüssig bleiben will; doch dieses Feste wird wiederum zum Anlass für den Liquor unserer Gedanken, der sie umspült und mit feinen Wellenzungen beleckt. Das freilich scheinen sich diese Gemälde ganz gerne gefallen zu lassen.

Michel Mettler, Schriftsteller

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Ausstellung R57 "Portrait", 2015

Martina v. Schulthess: Porträt einer Familie

Wer ist hier eigentlich die Chefin, der Chef? Die neuste Bildserie von Martina v. Schulthess, wie immer in verblüffend realistischer Manier und in höchster Präzision gemalt, zeigt eine Familie, so viel ist klar. Tochter, Sohn, Vater und Mutter werden als Ganzkörperporträts auf je 160 x 80 cm grossen Hochformaten gezeigt. Die beiden Kinder sind mehr oder weniger in Lebensgrösse dargestellt, die Körpergrösse der Erwachsenen jedoch passt sich derjenigen des Nachwuchses an. Egal, ob sechs oder sechsundfünfzig Jahre alt: In dieser Familie sind alle gleich viele Zentimeter gross. Doch nicht genug der Irritation: Die Tochter hält an der Leine und als Haustier ein kniehohes Pferdchen; ins Hosenbein des Jungen krallt sich ein ängstlicher, ebenfalls an der Leine gehaltener Superman; das Schosshündchen des Vaters ist eine französische Bulldogge, und die Mutter ist ganz mit dem Zähmen einer Schar von Hamstern und Mäusen beschäftigt. Die Mutter, übrigens, ist keine Geringere als die Malerin selbst: Familien- und Selbstporträt vermischen sich hier.

Sogleich, noch bevor man richtig hinschaut und sich in den unzähligen Details verliert, ertappt man sich dabei, wie man versucht, die Beziehungs- und Machtverhältnisse herauszulesen aus dieser Konstellation von Menschen, die zusammengehören, zusammengeworfen wurden, das Zusammenleben nur teilweise gewählt haben – wie das bei einer Familie eben so ist. Warum sind sie denn alle gleich gross? Warum beginnt die Serie auf der linken Seite ausgerechnet mit der Tochter? Weil mit ihr die Familie angefangen hat?
Mit einem ähnlichen Entzifferungsversuch begegnete man erst kürzlich dem Foto von Mario Testino, das die royale Familie anlässlich des Tauffestes der britischen Prinzessin Charlotte zeigt. Dort posieren, auf einer Bank sitzend, hinter welcher weitere Familienmitglieder stehen, von links nach rechts Prinz William, der kleine Prinz George, Herzogin Kate mit Charlotte auf dem Schoss und schliesslich ganz rechts die Queen. Warum gerade diese Sitzordnung?

Theoretisch könnte die Hängung der vier Bilder von Martina v. Schulthess jederzeit verändert werden, die Einzelformate liessen dies zu. Das Beziehungsgefüge in der Familie könnte sich ja in der Tat noch verschieben, die Kinder sind noch jung, Spielraum besteht.
Die vier Porträtierten gehören zusammen und sind doch getrennt, wie bei Familien üblich: Man lebt unter demselben Dach und gleichzeitig in ganz unterschiedlichen, vielleicht weit von einander entfernten Welten. Nur dass diese Welten in der Regel bei Familienporträts keine Rolle spielen. Egal, ob es sich um das Werk eines Amateurs oder einer professionellen Porträtfotografin handelt: In familiären Auftritten inszeniert sich die Gruppe gemeinhin als Einheit, zelebriert die Verbundenheit. Und wenn es früher gang und gäbe war, Doppelporträts in zwei einzelne Bilder aufzuteilen, wie etwa beim Diptychon des Herzogs Federico von Montefeltro und seiner Gemahlin Battista Sforza von Piero della Francesca aus dem Jahre 1473, so schauten sich diese beiden immerhin an.

Verbunden sind die vier Familienmitglieder trotzdem: Nicht nur durch die Konzeption der Serie hinsichtlich der gleichen Körpergrössen und Bildformate, sondern auch durch den Ort, an dem sie alle stehen (vor einer hellgrünen Wand, auf einem grau-grünen Boden), durch ihre aufrechte Haltung (Gewicht gleichmässig auf beide Beine verteilt) sowie die Alltagkleidung, die sie alle tragen (zerknitterte Jeans, gemusterte Socken, bequeme Pullis). Schuhe werden keine gebraucht, man ist zu Hause.

Dieses Zuhause scheint von seltsamen Gestalten und mancherlei Getier bevölkert zu sein. Unweigerlich denkt man bei Meret und Viktor mit ihren zu lebenden Gestalten gewordenen und an der Leine gehaltenen Spielzeugen an Goyas Porträt von Don Manuel Osorio Manrique de Zuniga aus dem Jahre 1792, das witzige Bildnis eines kleinen Jungen mit rotem Overall vor dunklem Grund, der einen Vogel an der Leine hält. Dahinter, im Halbdunkeln, lauern zwei Katzen mit gierig glänzenden Augen.
Meret und Viktor posieren zusammen mit ihren Spielgefährten in derselben Selbstverständlichkeit wie Dieter, der Vater, mit dem Hund. Warum muss er diesen in seinen Armen halten? Ist er krank oder einfach sehr anhänglich?
Die Einzige, die nicht aus dem Bild schaut, ist Martina, die Mutter. Kein Wunder, schaut sie nicht her, denn sie ist, einer Dompteuse gleich, konzentriert damit beschäftigt, eine Wüstenspringmaus, die auf ihrer linken Hand sitzt, mit Brot zu füttern. Zwei weitere Nagetiere sitzen auf der linken Schulter, ein viertes klettert den Arm herunter, ein fünftes ist dabei, sich aus dem Staub zu machen, links aus dem Bild hinaus zu rennen, es dreht die Leserichtung der BetrachterInnen quasi um, wird jetzt dann auf Dieters Bühne auftauchen, wo dieser den Hund hoffentlich auch weiterhin schön brav in den Armen behält.

Getrennt werden die vier Familienmitglieder nicht nur durch ihren Auftritt auf singulären Leinwänden, nein, Distanz untereinander schafft auch ihre jeweilige Nähe zu ausserfamiliären Wesen – oder sind Superman, Pferdchen, Hund und Mäuse gar Teil der Familie?
In dieser Arbeit geht es nicht nur darum, die Traditionen und Konventionen der bildhaften Repräsentation von Familie auf durchaus humorvolle Art und Weise in Frage zu stellen, sondern das System Familie mit seinen komplizierten Beziehungen, Konstellationen, Koalitionen und Separationen zu thematisieren. Vielleicht ist die aus dem Bild rennende Wüstenspringmaus ja die Schlüsselfigur dieses Familienporträts, weist sie doch darauf hin, dass hier allerlei ins Wanken geraten könnte: Was, wenn Superman sich von der Leine löst und die französische Bulldogge besucht? Was, wenn das Pferdchen dem Vater in die Waden beisst?
Wer befiehlt und dirigiert, wer beschützt und unterstützt, wer manipuliert und provoziert hier eigentlich wen? Martina v. Schulthess fügt der langen Geschichte des Familienporträts eine weitere Version hinzu – auf vielschichtige und verspielte Art und Weise.

Sonja Kreis, Künstlerin und Kunsthistorikerin


Mario Testino: Royal Family, Tagesanzeiger vom 10.7.2015
Piero della Francesca: Diptychon des Federico da Montefeltro mit seiner Gattin Battista Sforza, ca. 1472/73
Francisco de Goya: Manuel Osorio Manrique de Zuñiga, 1792

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Ausstellung R57 "Stilleben", 2010

Wer ist Robert? Wo ist Robert? - Zu den Bildern von
Martina v. Schulthess

Es ist still. Gesprenkelte Vogeleier schimmern matt. Ueber die rauhfaserige Schale eines Erdnüsschens verläuft eine unregelmässige Gitterstruktur. Oelig glänzt eine Erdnusshälfte mit Bart.
Die Präsenz der Dinge in Martina v. Schulthess`Bildern entsteht durch eine malerische Präzision, die sich über viele Jahre hinweg entwickelt hat. Sowohl die Textur der Leinwand als auch die Schichten von Oelfarbe verschwinden gänzlich hinter der Oberfäche der dargestellten Häute, Schalen und Hüllen, hinter der Pudrigkeit von Schmetterlingesflügeln, dem Glanz von Wassertropfen, der abweisenden Glätte von Kunststoff. die Dinge zelebrieren ihre Beschaffenheit, haben sich herausgeputzt und erstrahlen in einer fast Angst machenden Makellosigkeit. In unsichtbarer Nähe lauert denn hinter der farbklingenden Schönheit der sinnlichen Materialien auch schon die Vergänglichkeit der Dinge und mit ihnen das potentiell Unperfekte, Kaputte, Zerfressene und Vergammelte.
Die abgebildeten Gegenstände - kleine Dinge des Alltags, Esswaren, Insekten - werden nicht etwa in frontaler Ansicht gezeigt und in einer Raumtiefe arrangiert, sondern allesamt in Aufsicht dargestellt und von einer neutralen Lichtquelle beleuchtet: eine typisch fotografische, filmische, naturwissenschaftliche Perspektive, die aber auch als Anspielung auf den göttlichen Blick gelesen werden kann. Der Eindruck eines Ueberblicks, einer Uebersicht wird jedoch schnell von einem Gefühl der Unsicherheit überlagert. Frühkartoffeln neben Vogeleiern und einem Bauchnabel, der aus der hautfarbenen Unterlage herauswächst. Kapernknospen und Wassertropfen neben einer Kaulquappe und dem Backenzahn eines Kindes. Eine Himbeere so gross wie der Kopf des Betrachters. Eine Schnecke mit den Ausmassen eines Kleinkindes.
Der Blick für die Schönheit alltäglicher Dinge verbindet sich bei Martina v. Schulthess mit der Lust an der Verunsicherung, sei es durch die Monstrosität aufgeblasener Insekten oder durch die verwirrende Kombination von Gegenständen. Warum haftet an der Erdbeere eine Etikette mit der Aufschrift "Robert"? Wer ist Robert? Und wo ist er? Warum trägt die Crevette einen Goldring am Schwanz? Warum sitzten Fliegen in Reih und Glied? Was verbindet Bauchnabel und Frühkartoffel?
Anders als ein Trompe l`oeil ist die Absicht der Künstlerin nicht als Irreführung des Betrachters deklariert. Die Falle, die einem gestellt wird, muss hinter der Virtuosität der Darstellung, der Faszination für die taktilen Oberflächen zuerst entdeckt werden. Diese Bilder erzählen von einer Welt, die wunderschön ist - wunderschön abgründig und rätselhaft.

Sonja Kreis, Kunsthistorikerin

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Man muss die Kaper lieben, weil sie einen verlässt
Zur Malerei von Martina v. Schulthess

Weil ich weiss, wie viel Zeit verstreichen muss, bis Martina v. Schulthess die gemalten Kapern, die Kaulquappe, den Wassertropfen und den Kinderzahn entlässt, damit diese eigene Allüren des Zusammenseins entwickeln, zögere ich nicht, das ziemlich emphatische Wort Entschleunigung hier derart früh und ohne Umschweife einzuführen. Malen, so wie es Martina v. Schulthess (und zwar in jeder Hinsicht) betreibt, hat das Zuwarten zur Voraussetzung.
Darum betrachten wir Erdauertes; den Kunststoff-Cowboy, dem alle Zeit zur Verfügung stand, kaputt und vor die Hunde zu gehen, und der dennoch seine fast würdevolle Wächterschaft für abgehalfterte Hippoheraldik beibehält; die narzisstische Frühkartoffel die sich während halber Erdgeschichtsdauer formbewusst um ihren dezenten Goldgehalt kümmerte; den Kinderwangenzahn, dessen Zeitresistenz in subtiler Weise die aufgepumpte Verletzlichkeit der kapernhaften Kaulquappe kommentiert.
Die Malerin nimmt sich, fast handgreiflich, Zeit und schenkt diese, kommt es mir vor, umgehend ihren allmählich zu ermalenden Gegendständen. In der Tat, die Malerin macht als Ermalerin grösste Zeitgeschenke, an Kapern und Cowboys, an Frühkartoffeln, an Vogeleier, an thailändische Black Tigers, an mundgerechte Portionen frischen (?) Muschelfleisches, Zeitgeschenke selbst an die Erneuerungskräfte eines in Aufsicht erfassten Schädels. - Und selbige Zeit hat, scheint es, bereits ihren Dienst angetreten.
Es sind ja weder der Pinsel noch die den Pinsel führende Hand, welche auf der Leinwand substantielle Spuren hinterlassen; Zeit handelt: Sie verändert.
Denn genau besehen - und das setzt erneut Zeit voraus! - hat die erdauerte, gemalte Kaper gegen jede Rasanz des Scheins die Eindeutigkeit abgelegt, ist verdammt offen geworden für Einflüsse aus dem werdenden Froschleben, liebäugelt mit Charcuterie, mit Schleim und Zermalmtwerden.
Martina v. Schulthess` so geheissene Stillleben sind so still nicht! Im Gegenteil: Der geplünderte Chips-Sack schreit gleichsam an gegen die formidable Makellosigkeit seines Hülledaseins. Er verzehrt sich nach Inhalt, nach Inhalt mit Haut, wenigstens mit Haar.
Die Erdbeere entblösst vergleichbar schreierisch das noch kaum Ausgedachte, ihren dauerhaft den Blicken entzogenen Bauch. Sie definiert Weiss zur Farbe der Scham, ein lauter Gongschlag in die Ordnung unserer Gefühle!
Ein gewisser Robert hat, obendrein, die Etikette seiner Identität an diesen Erdbeerbauch verloren.
Irritation ist das Eine; der Rest ist vorab Humor. Gestörte Wiedererkennung auf den zweiten Blick verlangt Humor.
So verzerrt uns die Künstlerin mit irrwitziger Ausdauer und abgefeimter Akkuratesse den massenhaft bewährten Onkel Weihnachtsmann zur trostlosen Figur, der nur die Wahl bleibt zwischen nadelstechender Einsicht in selbsterwirtschaftete Debiltiät und Starre ob des vorweggenommenen Todes. Ins Spiel geworfen werden also gar die linderden Kräfte schwarzen Humors.
Man ahnt: Martina v. Schulthess betreibt ihren gewaltigen Malaufwand nur vermeintlich im Abbildungsrausch. Gemaltes ist untreu! Gemaltes kappt Beziehungen, zum Vorbild, zum Wunschbild.
Realistisch an dieser Malerei ist einzig das Neue oder das Andere, das sie erzeugt. Diesem Neuen oder Anderen aber begegnet Martina v. Schulthess fast altweiberhaft, mit beispielhafter Insistenz, mit Unvoreingenommenheit, mit Respekt: man muss die Kaper lieben, bevor sie einen verlässt, man muss die Kaper lieben, weil sie einen verlässt.

Dieter Zwicky, Schriftsteller